Viel zu oft im «Dort» als im «Hier» zu sein

Whitehorse ist 7631 km von der Schweiz entfernt. Das dauert 12 min mit der Rakete, 2h mit dem Düsenjet, 8.5 h mit dem Flugzeug, 20.5 h mit dem Formel-1-Rennauto, 60 h mit dem Auto, 13 Tage mit dem Fahrrad und zwei Monate zu Fuss, wie mir eine gute Freundin beim Abschied vorgerechnet hat. Eigentlich gar nicht so weit weg. Und doch weit genug, um weg zu sein. Trotz der neun Stunden Zeitverschiebung ist das Klingeln des Telefons zeitgleich und das «jetzt» überall gleichzeitig, unabhängig der Uhrzeit. Erst das Warten auf Post aus der Heimat zeigt einem die wirkliche Distanz, die zwischen uns liegt. So brauchte meine Mutter weniger lange, um mir wollene Shorts zu stricken als die Post Zeit brauchte, diese als Brief per Flugpost nach Kanada zu liefern. (Und ja, richtig gelesen, wollene Shorts. Glaubt mir, bei – 40 Grad legt man keinen Wert mehr auf Mode, sondern auf einen warmen Hintern.)

 

Für meine Monate im Ausland wurde mir nahegelegt, dass ich mir ein Smartphone zulege. Um besser in Kontakt zu bleiben. Ich liess mich von dieser Bitte erweichen, verabschiedete mich schweren Herzens von meinem Steinzeit-Nokia und kaufte mir ein klügeres Handy. Es folge ein grosses Aufatmen in meinem Freundeskreis und unzählige «Chat»-Einladungen. Mit der Zeit lernte ich die Vorteile dieses neuen Gerätes zu geniessen und die vereinfachte Kommunikation zu schätzen. 

 

Die Nebenwirkungen dieser kleinen Zeitmaschine unterschätzte ich jedoch. Dieses Aufmerksamkeit liebende Gerät sehnt sich nach (zu) vielen Streicheleinheiten und kann sehr zeitintensiv sein. Schnell lernte ich, dass man sich von ihm nicht um den Finger wickeln lassen darf. Bei seinem Besuch im Yukon zog mich mein Vater auf und diagnostizierte die Nebenwirkungen nüchtern als Sucht. «Experience the methamorphosis from a smartphone dinosaurier from the Swiss mountains to a simpstic smart-aholic Yukon lady», kommentiert er Fotos von mir am Handy in unserem Familienchat. Wobei er nicht erwähnte, dass es nur deshalb so viele Schnappschüsse von mir am Handy gab, weil ich die meiste Zeit versuchte, uns mit meinem klugen Handy durch unsere Reise-Odyssee zurück nach Whitehorse zu lotsen. Ohne dieses wären wir vermutlich noch lange auf das Ende des Fährenstreikes am Warten gewesen und wären bestimmt länger in Juneau (Alaska) festgesessen. Reisebegleitung- und Organisation – ein weiterer Vorteil, den man diesen Geräten zuschreiben kann.

 

Dank meines Smartphones konnte ich auf einmal in Sekundenschnelle an zwei Orten gleichzeitig sein – im «Hier» (Kanada) und im «Dort» (Schweiz). Diese schnelllebige Technologie machte die Distanz zwischen uns zwar nicht kürzer, brachte mir jedoch das Leben in der Heimat näher. Es war allerdings nicht immer einfach, im «Hier» und nicht im «Dort» zu sein und doch gedanklich an beiden Orten zeitgleich zu sein. Im «Hier» neue Kontakte zu knüpfen und im «Dort» Kontakt zu halten. Einzutauchen in ein Meer von Neuheiten und sogleich festhalten an die Andenken der Heimat. Ein stetes Vergleichen von altem Vertrauten und dem frischen Unbekannten. Hin- und hergerissen sein und sich weniger ganz an einem Ort zu fühlen. Zwischen zwei Welten schweben und sich selbst suchend einen Platz im eigenen Leben innerhalb zweier Orte finden. Aber vor allem den Moment in Kanada festhalten und dabei die Heimat ein bisschen loslassen. Heimat wird immer Heimat sein, aber das Hier-zu-sein wird nur einmal in diesem Moment sein und ist soeben bereits wieder vorbei. Es ist die Kunst, den Moment im Moment zu geniessen ohne gedanklich schon wieder beim nächsten Augenblick zu sein. Es ist ein Balancieren im «Hier», nicht «Dort» zu sein. Eine Kunst, welche ich zu beherrschen noch immer am Üben bin.

Fabia Meyer · hello@fabia.me