Eintauchen anstatt sich über Wasser zu halten

Auf einer Wanderung in Alaska stach sie mir ins Auge und in die Nase: Eine gelbe Blume. Trotz meines 18 kg Rucksackes und eines Zwölfstundenmarsches vor mir liess ich es mir nicht nehmen, inne zu halten und diese Blume mit ihrer gigantischen und leuchtend gelben Blüte zu bestaunen. Inmitten einer meiner grössten körperlichen und mentalen Herausforderung stand ich einfach nur da und staunte. Über eine Blume, die als Erste dem Winter trotzte, um den Frühling zu begrüssen. Nichts Ungewöhnliches, kann man jetzt denken, eine muss ja wohl den Anfang machen. Stutzig machte mich allerdings die Tatsache, dass da eine Pflanze aus dem gefrorenen Boden wächst.

  

Ohne eine Erklärung auf meine Verwunderung zu bekommen gönnte ich der Blume ein Foto und setzte meine Wanderung fort. Später erbarmte sich mir Wikipedia und klärte mich auf: Die Lysichiton americanus erhitzt ihre Umgebungstemperatur bis zu 35 Grad und spriesst damit durch Eis und gefrorenen Schlamm bis zu 20 cm in die Höhe. Ihre Wurzeln verankert sie so tief, dass ihr Stiel kaum auszureissen ist und ihr penetranter Geruch macht ihrem Übernamen «Stinkkohl» alle Ehre. Dieser riecht so intensiv wie eine Hanfplantage (woher ich weiss, wie eine Hanfplantage riecht, ist eine andere Reisegeschichte). Ihr Geruch soll Feinde fernhalten und Insekten anziehen. Mich hat nicht ihr Gestank, sondern ihre beeindruckende Eigenschaft, die Umgebungstemperatur zu erwärmen, angezogen.

  

Diese Blume begleitete mich lange – und noch immer – durch meine Gedanken. Wo die Natur bei den einen Pflanzenarten Barrieren setzt, so scheint sie bei den andern Unglaubliches möglich zu machen. Der gelbe Stinkkohl wurde für mich zum Zeichen, dass unmöglich Geglaubtes, möglich sein kann. Ich begann, über meine eigenen Grenzen zu sinnieren.

  

Im Gegensatz zu dieser Blume habe ich den Spielraum, wie, wo und wie weit ich wachsen will. Meine Grenzen setze ich mir selbst und nur ich entscheide, wie hoch diese sein sollen. Als Kinder bekommen wir Grenzen vorgelebt und vorgesetzt, als Erwachsene sind wir selber verantwortlich, wie hoch wir diese aufstellen. Basierend auf der Vermutung, wo sie sein sollten und leider zu oft beeinflusst von der Einschätzung anderer. Und so vertrauen wir darauf, dass wir sie weit genug setzen. Unkontrolliert, wie sie sind, ist die Verlockung gross, diese zu tief zu setzen. Wie einfach es doch ist, seine Grenzen da verstauben zu lassen, wo sie sind. Sich nicht zu fordern, aus Angst, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Ungenutzte Möglichkeiten werden zu Schranken, zu ungelebten Chancen. 

  

Wie wissen wir, wie weit «weit» genug ist und wie viel, «viel zu viel» ist? Seine eigenen Grenzen kennen, sie jedoch nicht als Hindernis zu sehen und über sie hinauszuwachsen. Und zu wissen, dass die eigene Kraft gedeihen kann.

  

In Kanada erinnerte ich mich wieder an das Kind in mir. An meinen Mut, nicht an meine Angst. Lernte wieder zu gehen, ohne daran zu denken, hinfallen zu können. Es wieder und wieder zu versuchen. Und so stürze ich mich – nicht ganz so kopflos wie vor 20 Jahren – auf jede Möglichkeit, meine Grenzen herauszufordern. Es begann mit der Entscheidung, meine Heimat auf Stand-by zu setzen. Auf etwas zuzufliegen, das ich nicht kannte. Eine Sprache zu sprechen, die nicht mir gehört. Einen Alltag zu leben, der mich täglich lernen lässt. Neue Freundschaften zu finden, die Wurzeln schlagen. Entscheidungen zu treffen, von denen ich manchmal nicht einmal wusste, dass es sie gibt.

 

Meine Grenzen höher zu setzen und meinen Weg abenteuerlich zu gehen macht mich um einige Dollar ärmer sowie um unzählige Stürze und Verletzungen reicher. Ein Preis, den ich zu zahlen gerne bereit bin. Was ich dafür bekomme ist eine unaufhaltbare Zuversicht und eine anhaltende Freude, welche sich in mir so tief verwurzeln, dass sie so schnell nicht auszureissen sind.

Fabia Meyer · hello@fabia.me