Eine Stadt, die mit ihrem schönen Namen schummelt

Meine liebe Familie liess mich nicht ganz planlos in die weite Welt ziehen und schenkte mir einen persönlich gestalteten Reisebuchführer «Fabias Planet». Mit dieser Spezialausgabe versprachen sie mir einen «lonely planet» fern vom Massentourismus. Und recht hatten meine Lieben. Obwohl ich sagen muss, das liegt wohl weniger an ihren guten Reisetipps als vielmehr daran, dass Whitehorse eine halbe Person pro Quadratkilometer zählt – 20 Menschen weniger pro Quadratkilometer als mein Wohnort Feldis in der Schweiz (mit 120 Einwohnern).

 

Auf die überlebenswichtigen Tipps des Reiseführers, wie beispielsweise das unterschiedliche Verhalten bei Begegnungen mit «beer» und «bear», konnte ich mich immer wieder berufen. Auch meine Schwester hat sich gut an ihren eigenen Tipp «stay excited if you see a beer but stay calm if it’s a bear» gehalten, als sie mit ihrem Freund zu Besuch kam. Sie blieb wie geraten ruhig, als wir in unseren Kanus von einem Bären angegriffen, beziehungsweise vertrieben wurden. Obwohl – ihre erstaunliche Ruhe lag wohl eher am Schrecken als daran, dass sie in diesem Moment an ihren eigenen Tipp gedacht hat. Das Tier hat sich übrigens bei so viel Swissness die Nase gerümpft und das Weite gesucht. Vom Schock erholt haben wir gemäss ihrem Reisetipp «seek a beer but avoid a bear encounter» lieber zum Bier als zum Bären gegriffen.

 

Ein weisses Pferd ist mir hier nie begegnet, dafür umso öfters die Frage aus der Heimat, was der Ortsname Whitehorse bedeute. Mein kluges Reisebuch hat natürlich die Antwort darauf. Den Namen hat die Stadt von den Stromschnellen, welche früher aussahen wie die Mähne eines Schimmels. Mein Führer warnte mich jedoch nicht davor, dass ein schöner Stadtname nicht zwingend eine schöne Stadt benennt. Unter uns, die 30’000 Seelenstadt kann stolzer auf ihren Namen als auf ihr Ortsbild sein. Im «echten» Lonely Planet (der erst ein Jahr später den Weg in meine Hände fand) steht, dass Whitehorse mit seinen eher nützlichen als stilvollen Gebäuden nicht auf den ersten Blick beeindruckt (Zitat: «… und diese Malls – igitt»). Zur Freude meiner Schwäche fürs Einparkieren hat die Stadt mehr Parkplätze als Einwohner, auf welchen mein Kia Rio zweimal Platz hat. Auch die zweispurigen Strassen geben meinem kleinen Auto genügend Platz, sich zwischen den grossen Trucks vorbei zu schlängeln. Darin, dass der Charme der Stadt erst auf den zweiten Blick zu sehen ist, stimmt mir auch der «echte» Lonely Planet zu. So bietet das Schlechtwetterprogramm in Whitehorse drei (oder sinds vier?) Museen und noch mehr Kleinbierbrauereien, selbstverständlich mit beer tasting. Live Musik muss man nicht weit suchen und diverse Anlässe gibt es hier fast täglich.

 

Damit man hier in der «Grossstadt» des Nordens nicht zu sehr verweichlicht, gibt das «Up here» Magazin folgende Anweisungen: «Sei ‹Northern›. Bau ein Haus ausserhalb der Stadt. Trag Elche- und Robbenhaut. Parkier dein Auto in deinem Garten. Pisse am Highway. Nimm deinen Hund zur Arbeit (...) Überquere unerlaubt die Strasse. Pendle mit deinem Quad (vierrädriges Motorrad). Schau den Leuten in die Augen. Rasiere dich nicht – Frauen, das gilt für euch. Fluche. Spucke. Trete ein ohne zu Klopfen (...) Mach ein Lagerfeuer im Garten. Shoppe auf der Müllhalde. Nenne den Rest der Welt ‹draussen›. Töte dein Handy. Töte dein Essen. Und hör verdammt nochmal auf, dich wie ein Südstaatler zu benehmen.» Nach knapp einem Jahr hier kann ich die Liste noch mit dem Folgendem ergänzen: «Sammle deinen Haushalt im Garten. Geh mit Gummistiefeln ins Restaurant. Lass den Staub auf deinen High Heels. Parkier dein Auto, Truck, Wohnmobil, Boot, Quad, Schneemobil so, dass es jeder sehen kann. Nutze nicht unnötig deine Fusssohle ab, sondern parkiere stehts beim nächstmöglichen Parkplatz. Repariere keinen Sprung in der Frontscheibe. Im Sommer gehört ein Kanu auf dein Autodach, im Winter ein Hundeschlitten. Rede mit Fremden beim Warten in der Schlange und überall sonst. Lerne jemanden kennen, der jemanden kennt, den du kennst. Mach bei einem harten Wettrennen mit (240 km auf dem Rennrad ist doch kein Problem, oder sonst halt mit dem Stand Up Paddel 720 km auf dem Yukon von Whitehorse nach Dawson, oder doch lieber dieselbe Distanz zu Fuss im Winter bei – 30 Grad?)».

 

Mit einem zweiten Blick auf die Stadt erkennt man, dass es die Menschen sind, die mit ihrer herzlich offenen und freundlich verrückten Art die Stadt zum Leben erwecken und ihrem Namen alle Ehre machen. Ich hatte jedoch keine Ahnung, was mich da genau erwartet, als ich nach einem langen Flug und mit noch frisch rasierten Beinen am 1. April meine Füsse auf kanadischen Boden setzte.

Fabia Meyer · hello@fabia.me