Fern von Daheim, ein neues Zuhause

Heute vor einem Jahr, am 1. April, flog ich über die Rocky Mountains. Mit noch vom Abschied feuchten Augen blickte ich aus dem Flugzeugfenster. Fort von allem, was mich am Boden hielt, streiften meine Gedanken über das Wolkenmeer: Losgelöst von der Erde, schwere- und haltlos und doch zusammenhaltend bilden sich die Wolken unter mir. Schweben in Freiheit ohne Anfang und ohne Ende. Ohne Selbstbestimmung getragen vom Wind wird ihnen die Richtung gegeben. So nehmen sie Form an, bilden sich und werden zum Bild. Endlos immer wieder aufs Neue. Unermüdlich, weiter hinein ins Weite, hinaus in die Unendlichkeit. Für sie löst sich die Zeit auf und nur der Moment nimmt Form an. Bewegen sich dahin, wo «was war» und «was wird» unwichtig ist. Alles ist jetzt und sogleich wieder vergangen und dabei vergessen. Doch sein, ohne wichtig zu sein, wo liegt da der Sinn? Vielleicht braucht es keinen Sinn und es reicht aus, gut und richtig zu sein ohne sinnvoll wichtig zu sein.

 

Tiefsinnig flog ich in tausenden von Metern Höhe an besagtem Apriltag auf Whitehorse zu. Ich schwebte in der Gewissheit, vielleicht nichts Sinnvolles, aber auf jeden Fall das Richtige zu tun. Mit diesem Gefühl ohne Erwartung, einzig mit der Hoffnung, dass es mir gefallen wird, segelte ich auf einen neuen Lebensabschnitt zu.

Meine Füsse wieder auf festem Boden wartete ich am überschaubar kleinen Flughafen in Whitehorse auf mein Gepäck. Begrüsst wurde ich nicht nur von meinem Rucksack – mein Fahrrad gönnte sich noch einen Umweg – sondern auch von einer langjährigen Freundin meiner Patentante. Wir, zwei Fremde, schlossen uns in die Arme. Meine Patentante hat einige Wochen zuvor arrangiert, dass ich mich bei ihrer Freundin, einer Auslandschweizerin, für ein paar Tage einleben konnte. Ein besseres Ankommen hätte ich mir nicht wünschen können. Sie half mir, mich mit dem Nötigsten auszurüsten (von einer kanadischen SIM-Karte bis zu einem Bibliotheksausweis) und machte mich mit dem neuen Ort bekannt. Ausserdem stellte sie mich einer Freundin vor, bei welcher ich kurz darauf einziehen durfte. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich bereits in den ersten Wochen meine wichtigsten Bezugspersonen in Kanada kennengelernt hatte: Diese beiden beeindruckenden und inspirierenden Frauen, welche mich das ganze Jahr über begleiteten, mich bei so mancher Hürde unterstützten und mit welchen ich viele Stunden lachend und redend verbrachte. Zwei alleinerziehende Mütter von erwachsenen Kinder, welche viel dazu beigetragen haben, dass ich mich fern von meinem Daheim, im Yukon Zuhause fühlte.

 

In Kanada war ich auf mich alleine gestellt, aber alleine, fühlte ich mich keinen einzigen Tag. Das liegt vor allem daran, dass ich im Yukon mit offenen Armen empfangen wurde, dass dort sowohl Solidarität als auch Hilfsbereitschaft gelebt wird und die lebensbejahende und naturliebende Art der Yukoner mich ansteckte. Ich, die es nicht gewohnt bin, in der Schweiz von Fremden angesprochen zu werden, musste mich erst einmal an die Offenheit und Kontaktfreudigkeit der Kanadier gewöhnen. Im wilden Norden ertappte ich mich nicht selten dabei, nach Links und Rechts zu schauen, um sicher zu gehen, ob tatsächlich ich angesprochen wurde. Ich staunte nicht schlecht – die Menschen sprechen miteinander beim Anstehen an der Kasse, sowohl Frauen als auch Männer kommen auf einen zu, Wildfremde machen Komplimente und Handlungen werden humorvoll kommentiert. Nicht selten entlockten mir diese Begegnungen ein Lächeln und ein beschwingtes Gefühl. Begegnungen, die ich mir aus der Heimat nicht gewohnt bin. Ich sah sie zwar nicht als Grundlage für neue Freundschaften, jedoch als Ansporn, meine Schüchternheit abzulegen und aus Eigeninitiative auf Menschen zuzugehen. Ermutigt liess ich mich mit der Gelassenheit der Yukoner treiben und traf erstaunlich schnell Menschen auf meiner Wellenlänge.

 

Die unzähligen spontanen Begegnungen und guten Freundschaften, welche ich in Kanada erlebte, liessen mich Wurzeln schlagen und diesen Ort lieben. Sie begleiteten und ermutigten mich in meiner wohltuenden Ungewissheit auf meinem Weg, dessen Himmelsrichtung ins Blaue führt.

Fabia Meyer · hello@fabia.me