Wo weit, wirklich weit ist

Mein wichtigster Besitz – Laptop, Spiegelreflexkamera, ein paar Kleider sowie mein Bike Stevie – begleitete mich an meinen neuen Wohnort. Vor allem Stevie stellte sich als treuer und unverzichtbarer Gefährte heraus. Zerlegt in Einzelteile, verpackt in einer Kartonschachtel, kam er mit etwas Verspätung am Zielort an. In Whitehorse verschaffte uns beiden der Neuschnee noch etwas Zeit, den guten Stevie wieder auf die Beine, beziehungsweise auf die Räder zu bringen. Mein Reiseführer «Fabias Planet» hat mich vor 700 km Mountainbike Trails in Whitehorse gewarnt. Mit Notfallnummern ausgestattet und uns selbst überlassen, konnten Stevie und ich es kaum abwarten, dem Unbekannten entgegenzurollen.

 

Auf die harte Tour lernte ich, dass «weit» in Kanada eine andere Dimension hat als in der Schweiz. Dass der Alaskan Highway mit seiner immer zu sehenden und niemals endenden Weite mit dem Mountainbike kein Vergnügen ist. Ein «rock garden» nicht nur rockt, sondern hauptsächlich Steine in den Weg legt. Beim hiesigen Cross Country Biking (von Hügel zu Hügel) Stevies einziger Makel, keine automatische Sattelstütze zu haben, ein echter Nachteil ist – wobei mir das Anhalten fürs Sattelverstellen jeweils gute Ausreden für Verschnaufpausen verschafft. Schnell stellte ich fest, dass die trockene Kälte mich nicht davon abhält, bei Schneefall und Minustemperaturen zu biken und schneebedeckte Strassen zwar abenteuerlich, aber kein Hindernis sein müssen. Wiederwillig musste ich mir dann aber doch eingestehen, dass der Winter hier einfach hartnäckiger liegen bleibt. So entschieden wir uns, dem April und Schnee den Vortritt zu lassen. Mit der Vorfreude auf wärmere Temperaturen übten wir uns im Warten.

                 

Mit dem Frühling trat ich den «Dirt Girls», einem Frauen Mountainbike Verein bei und strampelte mir in der unterschätzten Fortgeschrittenengruppe Schweissperlen ins Gesicht. Es folgten Bike Touren mit «bike buddies» sowie zahlreiche Abenteuer auf eigene Faust. Auch den Besuch aus der Schweiz verschonte ich nicht. Während mein Vater meine Kondition scheute und sich unter der Bettdecke verkroch (zugegeben, sein Dengue-Fieber war bestimmt nicht ganz unschuldig daran), hat sich meine Schwester umso mehr vom Bike-Fieber anstecken lassen. Kurzerhand kaufte sie in Whitehorse ein Mountainbike und immigrierte es in die Schweiz. Mein dritter Besuch, ein guter Schulfreund, war der einzige, der mich jemals für eine Bike Tour überreden musste. Schuld daran war hauptsächlich das schlecht angekündete Wetter und die der Wettervorhersage angepasste feuchtfröhlichen Nacht in Dawson City. Der Tag danach strafte mit Sonnenschein und den weniger heiteren Nachfolgen eines durchzechten Abends. Meinen Freund überzeugte das herrliche Wetter mehr als mein trüber Anblick. Und so schwangen wir uns – in meinem Fall eher kletterten – auf die Sattel. Nur dank Stevies Gleichgewicht endeten meine Schwenker nicht im Graben.

 

Den ganzen Sommer über jagten mein Bike und ich mit Bärenspray und -glocke bewaffnet durch die kanadischen Wälder und grüssten mit unserem «Hello bear, we’re coming» jeden Bären fort. Die langen Tage und unzähligen Trails liessen uns über hunderte Kilometer rollen. Angetrieben von der Schönheit des Unbekannten scheuchte Stevie mich unermüdlich die Berge hinauf, während ich stets versuchte, mit ihm Tritt zu halten. Talwärts fegte er das Laub von den Steinen und nicht selten war er nur mit meinem Gesicht zu bremsen.

 

Mit den kälter und kürzer werdenden Tagen nahm unsere Müdigkeit zu. Nach (zu) vielen verrückten Touren ging irgendwann unsere Energiereserve zu Ende. Mit den ersten Schneeflocken im Oktober kam der Zeitpunkt, Stevie wieder in seine Kartonschachtel zu betten und ihm seinen wohlverdienten Winterschlaf zu gönnen. Ich verabschiedete mich mit dem Versprechen, auch nächsten Sommer wieder mit ihm auf Abenteuerjagd zu gehen. Dass er für die Wintermonate mit einem weniger sensiblen Winterbike ersetzt würde, musste er ja nicht wissen. 

Fabia Meyer · hello@fabia.me